Buchbesprechung
Jean-Noel Orengo – Der Architekt und sein Führer. Rowohlt Verlag (Hamburg),
ISBN 978-3-498-00766-9
Der französische Autor Jean-Noel Orengo hat es selbst auf den Punkt gebracht: „Ich bin mir absolut bewusst, dass das Klischee eines weiteren Buches über die Nazis mit … Feindseligkeit quittiert wird; bewusst, dass die Leute alles über die Nazis zu wissen glauben …“. Und doch wissen wir spätestens seit Jan Mohnhaupts „Tiere im Nationalsozialismus“ (erschienen 2020), dass es auch aus diesem Bereich Themen gibt, die noch nie beleuchtet wurden, die sich neben den zahllosen Toten der Zeit des Dritten Reiches und des Krieges nebensächlich ausnehmen, gleichwohl aber nicht minder bedeutend sind.
Und auch Jean-Noel Orengo gelingt es, ein völlig neues Bild vom „Architekt des Führers“, Albert Speer, zu entwerfen. Die bisherige Literatur zur Person Speer setzte sich nur aus dessen persönlichen Erinnerungen und den zwanghaften Versuchen politisch korrekter Historiker, dessen Aussagen auf Teufel komm raus zu negieren („Das kann doch nicht stimmen, was der sagt.“), zusammen.
Orengo entwirft ein sehr detailliertes Bild von Speer – fast eine Art Psychogramm, geprägt von einer einzigartigen Dichotomie. Albert Speer ist der einzige aus dem engen Kreis um Adolf Hitler, der überlebt hat und nach seiner Entlassung aus der Haft 1966 immer wieder über die Zeit mit Hitler sprechen musste, durfte und später über fast nichts anderes mehr sprechen konnte. Dabei wurde er eine Art Popstar der Moderne. Nicht nur die Richter bei den Nürnberger Prozessen, auch die breite Öffentlichkeit im Nachkriegsdeutschland, wußte Albert Speer für sich einzunehmen. Und die gleiche sympathische, zurückhaltende Art, dieses modern anmutende Dandytum, mit dem Speer bereits die Vorkriegsgesellschaft beeindruckt hat, funktionierte auch nach seiner Haft noch. Er wurde rasch zu einem Medienstar.
Das besondere an Albert Speer ist, daß man ihm seine Erschütterung über das Ausmaß der Verbrechen des Regimes, zu dessen Spitze er gehörte, abnahm. Selbst Simon Wiesenthal hat das, den gegen Ende eine fast freundschaftliche Verbindung mit Speer verband. Und diese Erschütterung ist ehrlich. Die Frage, die immer wieder im Mittelpunkt stand, und die Orengo erst am Ende seines fesselnd zu lesenden Buches thematisiert, war: hat Speer von den Konzentrationslagern und von den Verbrechen gewußt? Natürlich hat er das. Die Frage ist falsch gestellt. Und das liegt in der zwiespältigen Persönlichkeit Speers begründet.
Orengo zeigt die widerstreitenden Charakterzüge des Albert Speer auf: der kunstverliebte Architekt, der sich dem Regime verschreibt, weil er von Hitler die Chance bekam, sich zu verwirklichen; der elegante, gebildete, gut aussehende Mann, der dem Idealbild des „neuen Deutschen“ entsprach und somit eine Art Poster-Boy des Führers war und dem es scheinbar gleichgültig war. Er lebte für seine Kunst, für die Verwirklichung seiner Träume. Natürlich hat er von den Gräueltaten der Nazis gewusst, natürlich hat er spätestens als Rüstungsminister gegen Ende des Krieges sich selbst schuldig gemacht. Aber das war für ihn sekundär. Für ihn stand der Kleinkrieg, den er mit Martin Bormann führte, im Mittelpunkt und das Bestreben, die Gunst seines Mäzens (Adolf Hitler) auf keinen Fall zu verlieren. Die Schwere der Verbrechen der Nazi-Zeit wurden ihm erst bewusst, als das Ende da war.
Seine Neider haben oft angemerkt, daß es unfair ist, daß ausgerechnet er, Albert Speer, so „glimpflich“ bei den Nürnberger Prozessen weggekommen ist. Schaut man sich die Filmaufnahmen der Nürnberger Prozesse an, muß man allerdings feststellen: während die anderen führenden Köpfe wie trotzige kleine Kinder lautstark und stur an ihrer Linie festhielten, hat Speer überzeugend und wahrnehmbar erschüttert Verantwortung übernommen und diese Verantwortung zeitlebens nicht abgestritten.
Was bleibt, ist eine strittige Figur der Geschichte. Jean-Noel Orengo hat es geschafft uns ein neues, differenziertes, Bild von Albert Speer zu zeichnen. Er bescheinigt Speer, mit seinen autobiographischen Büchern „eine bislang unerreichte politische und ästhetische Autofiktion“ vorgelegt zu haben.
Noch zwei anekdotische Punkte zum Leben von Speer, wie es Orengo darstellt: es ist skurril zu lesen, wie Speer in den 1930er Jahren vergeblich versucht, Adolf Hitler seine Theorie vom Ruinenwert nahezubringen, und am Ende (1945) sehen muß, wie die von ihm geschaffenen Bauwerke nur noch Ruinen sind. Und: Ironie des Schicksals, dass der Medienstar Albert Speer ausgerechnet in London nach einem Fernsehinterview bei der BBC gestorben ist.
Ich empfehle dieses Buch jedem, der sich für Biographien interessiert (Orengo bezeichnet sein Buch als „Roman“), jedem der sich sachlich mit dem unschönen Erbe unserer Vergangenheit auseinandersetzen will und jedem, der verstehen will, was passiert es.
Wenn man verhindern will, daß so etwas noch einmal passiert, muß man verstehen, wie es dazu kam.
Frank Brandstätter